Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Wenn nichts mehr geht (2024)

Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Wenn nichts mehr geht (1)Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Wenn nichts mehr geht (2)

ME/CFS bietet ein facettenreiches Beschwerdebild mit den Hauptmerkmalen Belastungsintoleranz und Fatigue. Noch sind die Ursachen nicht vollständig geklärt, aber mit einer angemessnen Therapie kann dennoch vielen Betroffenen geholfen werden.

Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Wenn nichts mehr geht (3)

Foto: nadia snopek/stock.adobe.com

Schätzungen gehen davon aus, dass allein hierzulande etwa 250000 Menschen von myalgischer Enzephalomyelitis/chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) betroffen sind, darunter ungefähr 40000 Kinder (1, 2). Allerdings gibt es für Deutschland keine epidemiologischen Studien, wie Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen, Institut für Medizinische Immunologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem Deutschen Ärzteblatt erläutert. Ergebnisse internationaler Studien wiesen auf eine Häufigkeit von 0,1 bis 1% an der Gesamtbevölkerung hin.

Durch die Coronapandemie kann noch einmal eine erhebliche Anzahl an Betroffenen hinzukommen. Denn ein großer Anteil der Personen, die an einem Post-COVID-Syndrom leiden – vermutlich etwa 20% –, haben ein ME/CFS (2, 3). Vielen Ärztinnen und Ärzten ist zudem die Erkrankung nicht bekannt, sodass von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Es gibt sehr wahrscheinlich viele nicht erkannte Betroffene und viele mit Fehldiagnosen, wie psychosomatische oder psychiatrische Krankheiten.

Krankheit mit vielen Gesichtern

Prinzipiell kann ME/CFS in jedem Alter auftreten (2). Es gibt jedoch 2Erkrankungsgipfel: einerseits im Jugendalter und andererseits im Alter zwischen 30 und 40 Jahren. Vor allem Frauen sind betroffen, sie können verglichen mit Männern doppelt oder gar dreifach so häufig erkranken. Dabei handelt es sich um eine komplexe Erkrankung, deren Ursache noch nicht vollständig geklärt sind. In mehr als ⅔ der Fälle geht der Krankheit eine Infektion voraus. Häufig sind die Infektionen durch Viren verursacht, etwa Herpesviren oder eben SARS-CoV-2 (Kasten). Eine genetische Disposition wird ebenfalls diskutiert.

„Das Leitsymptom der Erkrankung ist die Belastungsintoleranz mit Symptomverschlechterung nach oft schon leichter Alltagsanstrengung, auch postexertionelle Malaise (PEM) genannt“, sagt Scheibenbogen. Diese halte mindestens bis zum nächsten Tag beziehungsweise 14 Stunden an, könne aber auch Tage und Wochen dauern. Ebenso gehörten die schwere Fatigue, neurokognitive Störungen („brain fog“), Schmerzen − meist Muskel- und/oder Kopfschmerzen − sowie häufig auch Schlafstörungen und orthostatische Intoleranz zum Krankheitsbild. Charakteristisch sei auch eine Reizempfindlichkeit wie bei der Migräne.

Beim sogenannten „brain fog“ oder „Gehirnnebel“, den viele Betroffene beschreiben, kann es zu langsamen Denken, Störungen der Konzentration und des Gedächtnisses kommen (2). Weitere mögliche Symptome sind Probleme bei der Wortfindung und der Artikulation sowie eine verwaschene Sprache. Etwa ein Viertel der Betroffenen ist so schwer erkrankt, dass sie Haus oder Wohnung nicht verlassen können. Im schlimmsten Fall sprechen sie nur intermittierend, ernähren sich nicht ausreichend und sind auf künstliche Ernährung angewiesen, leben in abgedunkelten und geräuscharmen Räumen ohne körperliche Aktivität. Auch Personen mit mäßigen Beschwerden sind deutlich eingeschränkt mit etwa der Hälfte ihrer ursprünglichen Leistungsfähigkeit.

Das breite Spektrum an Beschwerden, die bei ME/CFS auftreten können, überschneidet sich mit den Symptomen vieler anderer Erkrankungen (4). Das macht zusammen mit der relativen Unbekanntheit der Krankheit die Diagnose schwierig. Hinzu kommt, dass es bislang keinen verlässlichen, für die klinische Routine geeigneten Biomarker gibt (2). Daher stützt sich die Diagnose auf das klinische Bild und den Ausschluss anderer Erkrankungen. Differenzialdiagnostisch kommt eine Vielzahl anderer Krankheiten aus den verschiedensten Bereichen in Betracht, etwa Fibromyalgie, Polymyalgia rheumatica, Diabetes mellitus, Endometriose, Anämie, Krebserkrankungen, postinfektiöse Fatigue, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, multiple Sklerose, Depressionen oder Somatisierungsstörungen, um nur eine Auswahl zu nennen. Wichtig ist, dass die Diagnose einiger mit Fatigue assoziierten Erkrankung ME/CFS nicht automatisch ausschließt, sie können zusammen vorliegen. Dazu gehören etwa die Fibromyalgie oder die Hashimoto-Thyreoiditis.

Schwierige Diagnose

Für die Diagnose haben sich international die kanadischen Konsensuskriterien (CCC) durchgesetzt (deutsche Version abrufbar unter http://daebl.de/CQ11) (2,5,6). Wichtig ist, dass die Beschwerden seit mindestens einem halben Jahr bestehen. Zusätzlich müssen die folgenden Hauptkriterien erfüllt sein:

  • Erschöpfung/Fatigue und Zustandsverschlechterung nach Belastung (PEM)
  • Schlafstörungen
  • Schmerzen
  • Neurologische/kognitive Störungen

Hinzu kommen Nebenkriterien, von denen mindestens 2 bestehen müssen:

  • Autonome Störungen
  • Neuroendokrine Störungen
  • Immunologische Störungen

Mithilfe von Fragebögen lässt sich der Schweregrad bestimmen: zum Beispiel für die Erfassung der Lebensqualität der Short Form-36, der allgemeinen Funktionseinschränkung der Bell-Score oder einzelner Symptome etwa die Fatigue Serverity Scale (2). Bei der körperlichen Untersuchung können verschiedenste Beschwerden auffallen, etwa blasses, aufgedunsenes Gesicht, Gangunsicherheit, Schwindel beim Stehen oder in Ruhe erhöhte Herzfrequenz. Häufig sind die Betroffenen sehr empfindlich gegenüber Licht und Geräuschen. Laboruntersuchungen wie großes Blutbild, Bestimmung des C-reaktiven Proteins, von Hämoglobin A1c, Ferritin et cetera dienen vor allem dazu, andere Erkrankungen auszuschließen. Darüber hinaus empfiehlt es sich, eine immunologische und rheumatologische sowie neurologische Diagnostik durchzuführen. Schlafstörungen, orthostatische Intoleranz und Infektionen sollten näher untersucht werden.

Bislang existiere noch keine ursächliche Therapie, führt Scheibenbogen aus. Daher sei die Behandlung symptomorientiert. „Hier kann oft mit einer Behandlung von Schlafstörungen, Kreislaufbeschwerden und Schmerzen geholfen werden.“ Weitere wichtige Bausteine seien das Aktivitätsmanagement und die Stresskontrolle mit Atem- oder Entspannungstechniken, um PEM zu vermeiden. Das Aktivitätsmanagement oder das vorausschauende Energiemanagement soll den Betroffenen helfen, ihre Aktivitäten den Belastungsmöglichkeiten entsprechend zu planen (2). Das auch als Pacing bezeichnete Konzept umfasst genügend Pausen und Schlaf sowie körperliche und geistige Aktivitäten in dem Ausmaß, mit dem kein PEM auftritt. Ein festes stufenweises Aktivierungsprogramm (graded exercise oder GET) ist dagegen nicht zu empfehlen. Zur Stresskontrolle gehören auch Maßnahmen wie Sonnenbrillen oder Gehörschutz, falls die Betroffenen licht- und/oder geräuschempfindlich sind.

Weitere Forschung notwendig

ME/CFS ist eine sehr komplexe, nicht seltene Krankheit mit einem vielfältigen Beschwerdebild. Sie betrifft vor allem jüngere Menschen. Ihre Ursachen sind bislang nicht umfassend aufgeklärt, sodass eine ursächliche Therapie noch nicht möglich ist. Mit einer symptomorientierten Behandlung, der Vermittlung von effektiven Strategien zur Aktivitäts- und Stresskontrolle kann vielen Betroffenen geholfen werden. Es sind weitere Anstrengungen in Forschung und Klinik notwendig, um den teils sehr schwer Betroffenen besser helfen zu können. Dr. med. Anne-Kristin Schulze

Weitere Informationen: http://daebl.de/GU14

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit4622
oder über QR-Code.


Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Wenn nichts mehr geht (4)

Foto: Charité – Universitätsmedizin Berlin

3 Fragen an . . .

Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz am Institut für Medizinische Immunologie, Charité Universitätsmedizin Berlin

Was ist über die Pathogenese von ME/CFS bekannt?

Die Pathogenese des ME/CFS ist nur in Teilen aufgeklärt. Nach den verfügbaren Evidenzen handelt es sich um eine Multisystemerkrankung mit Dysregulation des Immun-, des autonomen Nerven- und des Gefäßsystems sowie des zellulären Energiestoffwechsels (7). Psychosomatische Hypothesen zur Ätiopathogenese sind bei Infekt-getriggertem ME/CFS heute nicht mehr haltbar (8).

Wie kann ME/CFS erkannt werden?

Als Diagnosekriterien haben sich in den letzten Jahren international die kanadischen Konsensuskriterien (CCC) etabliert. Patientinnen und Patienten weisen meist auch klinisch auffällige Befunde auf, wie die oft verminderte Handkraft und eine periphere Minderdurchblutung mit kalten Händen, teilweise auch ein Raynaud-Syndrom. Häufig findet sich auch eine orthostatische Dysregulation im Schellong-Test. Dieser ist sensitiver, wenn sich die Patientin/der Patient dabei anlehnt (2).

Wie ist die Prognose?

ME/CFS ist für die allermeisten Betroffenen eine schwere und chronische Erkrankung und etwa die Hälfte bleibt arbeitsunfähig. Durch eine individuell angepasste „Pacing“-Strategie sowie mit angemessener medizinischer und sozialer Unterstützung kann es langfristig zu einer Stabilisierung und Verbesserung kommen. Bislang fehlt vielen Erkrankten jedoch eine entsprechende Betreuung (9). Die wenigen klinischen Studien, die bisher durchgeführt wurden, geben erste Hinweise, dass Autoantikörper-depletierende Therapien wirksam sein können (7). Kontrollierte Therapiestudien beginnen jetzt auch in Deutschland. Weitere Studien sind dringend notwendig.

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Author: Catherine Tremblay

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